Weil der Regenbogen nicht nur zwei Farben hat

Ein Plädoyer für das systemische Denken in vier Abschnitten.

  • Einfache Erklärungen bringen nichts
  • Realität ist konstruiert
  • Auf die Beziehung kommt es an
  • Veränderung und Balance ist kein Widerspruch

Schüttelst Du auch manchmal über Dich selber den Kopf? Mir passiert das recht oft :-). Vor allem dann, wenn mir das Offensichtliche und Banale wie Schuppen von den Augen fällt. Gerade ist das wieder so, denn ich beschäftige mich gerade mit meinen beruflichen Wurzeln. Und entdecke so allerhand wieder bzw. ganz neu. Mein bahnbrechendstes „Schuppen-von-den-Augen-Erlebnis“ war für mich vor inzwischen über 10 Jahren: Als ich in meinen systemischen Ausbildungen den systemischen Ansatz erlebte. In meinem Soziologiestudium hatte ich mich schon mit Niklas Luhmann beschäftigt. Ehrlicherweise war es damals eher mühselig für mich. Umso mehr habe ich mich dann einige Jahre später in die Werke von Paul Watzlawick, Fritz B. Simon und andere vertieft.

Damals wie heute: Das systemische Denken bietet für mich die einzige für unsere komplexe (Unternehmens-)Welt notwendige Haltung und auch das geeignete Handwerk.

Einfache Erklärungen für komplizierte Sachverhalte führen ins Nichts

Das wohl grundlegendste: Lineare Erklärungen, bei denen eine bestimmte Ursache eine ganz bestimmte Wirkung erzielt helfen nicht mehr weiter. Prognosen sind immer schwieriger zu treffen, die daraus abzuleitenden Maßnahmen immer komplexer und schwerer zu durchschauen. Nicht erst die Corona-Pandemie zeigt eindrücklich, wie komplex die Sachlage ist und dass eindimensionale Lösungen nicht weiterhelfen. Und letztendlich auch, wie überfordert die einzelnen Systeme sowie wir alle als Akteure mit der Situation sind.

Realität ist konstruiert

Die Erkenntnis, dass jeder seine eigene Realität konstruiert, war wohl die krasseste, die ich meinen damaligen systemischen Ausbildungen verdanke. Und die mich bis heute immer wieder staunen lässt: Gerade im beruflichen Kontext war ich mir bis dahin sehr oft so sehr sicher, den „richtigen“ Weg zu gehen. Ich habe mich aufgerieben an Widerständen und Kollegen, die es einfach nicht „einsehen“ wollten. Meine eigene Filterbrille habe ich dabei übersehen. Und damit vermutlich viele Chancen, hätte ich die Realität anderer mehr geschätzt und anerkannt. Meine Filterbrille sorgt dafür, wie ich meine (Um-)Welt wahrnehme und wie ich die Beziehungen gestalte, die ich pflege. Diese Filterbrille suche ich mir nicht aus, sie setzt sich aus meinen Prägungen, meiner Sozialisation und allen Lebenserfahrungen zusammen.

Daraus folgt die banale Erkenntnis: Es gibt nicht die „eine“ Wahrheit. Wer meint, es gäbe für ein Problem nur eine oder zwei Lösungen, hat mindestens drei übersehen. Nämlich die, die außerhalb meiner Vorstellungskraft, meiner „Realität“ liegen. Dieses Zitat stammt von Matthias Varga von Kibed, der mein systemisches Denken ebenfalls nachhaltig geprägt hat.

Auf die Beziehungen kommt es an

Kein Mensch lebt für sich allein, wir alle bewegen uns in sozialen Systemen. Diese wiederum sind geprägt von den Beziehungen der Akteure untereinander. In der Familie, im Beruf, im Freundeskreis usw. Was ist also das absolut Elementare für uns Menschen? Die Beziehungen, die wir mit anderen pflegen. Genau deshalb ist das „Ganze mehr als die Summe seiner Teile“, diese Energie oder Resonanz, die entsteht, wenn wir mit anderen zusammen sind, zusammen arbeiten. Das lässt sich nicht allein mit fachlichen oder menschlichen Fähigkeiten erklären. Da bedingt sich gegenseitig etwas, das einfach „mehr“ ist.

Auf meiner Leseliste steht deshalb ganz oben das Werk von Hartmut Rosa, Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Leider lesen sich diese 766 Seiten nicht mal nebenher 😉. Denn was gibt uns Energie und was raubt uns die meiste Energie? Das sind doch die Beziehungen zu anderen Menschen! In meinen Beratungsprojekten starten wir oft mit Struktur und Prozessthemen. Und jedesmal landen wir doch an demselben Punkt: Kommunikation, Führung, Zusammenarbeit, Missverständnisse und Konflikte, fehlende Wertschätzung. Beziehungsthemen eben. Wie banal ist deshalb die Erkenntnis, dass dies wieder in den Mittelpunkt gehört?

Veränderung und Balance – kein Widerspruch!

Wie ein Mobilé schwingen auch soziale Systeme sich immer wieder in ein Gleichgewicht. Manchmal sind die Impulse von außen oder innen sehr stark. Und doch sind soziale Systeme beharrlich. Denken wir an Abteilungen oder ganze Firmen mit hoher Fluktuation, die trotzdem irgendwie am Markt bestehen. Denken wir an zerrüttete Familien, die dennoch irgendwie zusammen bleiben. Veränderung also Fehlanzeige? Nein! Veränderung gelingt dann, wenn sich die Akteure selber in Bewegung versetzen. Damit bringen sie das gesamte System in Schwingung und es ist in der Lage sich neu auszurichten, neue Balance zu finden. Wieder eine Banalität: Der abgegriffene Satz „Veränderung beginnt in Dir“ beschreibt den Sachverhalt deshalb sehr treffend.

Deshalb ist der systemische Ansatz mit seiner Haltung und dem dazugehörigen Handwerk ein nachhaltiger und wertschätzender Weg in einer immer komplexer und schneller werdenden (Um-)Welt das Wesentliche in den Mittelpunkt zu stellen. Den Mensch. Und nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Das systemische Denken gehört deshalb in den Mittelpunkt! Ein Regenbogen lässt sich nicht mit nur mit zwei Farben erleben.

 

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