Einmal durch die Kurve, bitte!
Unter dem Label „neu entdeckt“ läuft bei mir gerade die Theorie U von Otto Scharmer. Vor Jahren habe ich schon dazu gelesen, immer mal wieder auf Seminaren Ausschnitte gehört. Ich fand es immer spannend, hatte aber nie Gelegenheit mit und im „U“ zu arbeiten. Oder besser: Ich war vielleicht noch nicht bereit für das „U“. Ich habe viel zu sehr in Kategorien des „Change“ gedacht und agiert und dabei nicht bemerkt, dass Transformation sehr viel mehr ist als durch die Changekurve zu begleiten und Meilensteine abzuarbeiten.
Denn: Ich habe immer versucht die „Theorie U“ mit meinem Verstand zu erfassen. Jetzt habe ich mich auf diesen einzigartigen Prozess eingelassen und ihn erlebt und gespürt.
Einen Rahmen aber keinen Plan
Wenn ich in Teamentwicklungen mit dem U arbeite, gibt sie mir und den Teilnehmenden zwar einen Rahmen – aber keinen festen „Plan“. Klar, vorher waren meine Beratungsprojekte auch immer bedarfsorientiert, Störungen hatten Vorrang usw. Es gab jedoch einen mehr oder weniger festen Ablauf, der auch in der Auftragsklärung definiert war. Ganz anders, wenn ich mit dem „U“ arbeite. Hier ist der Rahmen sehr viel weiter, der Raum für Neues größer. Die Chance auf echte Transformation ungleich höher.
Vertrauen und Verbundenheit
Eine prozessuale Vorgehensweise jedoch braucht deshalb vor allem eines: Ein tiefes Vertrauen, dass diejenigen, die am Prozess teilnehmen, die richtigen Themen und Lösungen bereits in sich tragen. Das Vertrauen darauf, dass ich für und mit der Gruppe in der Lage bin, einen Raum zu öffnen und zu halten für genau diese Themen. Ich liebe das U! Es gibt meinem Verstand einen wichtigen Anker, damit ich aus meinem Herzen mit „meinen“ Teams arbeiten kann.
Das „U“ beschreibt eine innere und äußere Reise, die jeder Einzelne aber auch die gesamte Gruppe durchlaufen.

Die linke Seite des U
Die linke Seite des U führt in die Tiefe bis hin zur Quelle. Es geht darum, ein Thema zu analysieren, hinzuhören, einzutauchen, zu spüren. Der für mich spannendste Punkt ist immer das Loslassen. Das Loslassen ist elementar dafür, dass Neues entstehen kann, echte Transformation passiert. Wie oft denken wir darüber nach, was wir loslassen dürfen? Viel eher geht es doch darum, was wir erreichen wollen, was wir anders tun müssen. Loslassen geschieht nicht nur im Kopf, weil man weiß, dass diese oder jene Veränderung gewollt, notwendig oder unausweichlich ist. Sondern weil man es spürt, dass jetzt etwas gehen darf und man mit ganzer Kraft weitergehen will. Das ist der Punkt, den Otto Scharmer mit dem Begriff „Presencing“ beschreibt, vergegenwärtigen und sich mit der eigenen Quelle verbinden.
Sich mit der Quelle verbinden
Der Scheitelpunkt des U ist genau jener Punkt an dem überhaupt kein Zweifel mehr besteht, dass etwas Neues kommen wird. Auch keine Trauer über das Vergangene ist hier mehr zu spüren. Vielmehr eine Tiefe Verbundenheit und Gewissheit. Vielleicht kann man es beschreiben, wenn man einen Umzug bewältigt hat, oder im Frieden einen Job hinter sich gelassen hat und einen neuen anfängt. Für mich waren auch die Geburt meiner Kinder solche magischen Momente. Kein Zweifel, kein abwägen mehr von pro und contra. Es ist gut und stimmig, wie es ist.
Die rechte Seite des U
Diese Verbundenheit gibt den notwendigen Schwung, um die nächste Kurve im „U“ zu nehmen, die rechte Seite. Zu spüren, was will kommen, dem Neuen Gestalt zu geben, auszuprobieren, zu modellieren, zu verkörpern und schließlich zu integrieren.

Den Verstand öffnen
Der Einstieg in den U-Prozess gelingt immer – so wie bei mir selber auch – über den Verstand. Indem wir Informationen herunterladen, betrachten und hinsehen/hinhören öffnen wir unseren Verstand. Der Verstand führt dann auch brilliant aus, wenn wir uns in der Aufwärtsbewegung des U befinden. Wenn uns Gedankenkommen mit denen wir uns, eine Sache oder andere verurteilen, sind wir auf dem richtigen Weg – unser Verstand ist clever und will uns im IST halten: „War ja klar, dass die ausgerechnet mit der Idee um die Ecke kommen.“ „So undurchdacht das Ganze, ich fasse es nicht…“
Das Herz öffnen
Die Öffnung des Herzens geschieht, wenn wir zulassen hineinzuspüren und einzutauchen. Unser Verstand schickt und dann gerne zynische Gedanken, „ist ja wieder typisch, diese substanzlosen Ideen“, „schon hundertmal erlebt, klar, klappt das ausgerechnet jetzt“.
Den Willen öffnen
Im dritten Schritt macht sich dann gerne die Angst breit: Wir spüren, dass es darum geht etwas loszulassen, das uns hindert. Genauso die Angst davor, was wohl kommen wird. „Wird es gelingen?“ „Werde ich/werden wir das schaffen?“. Wenn sich die Angst ausbreitet, dann sind wir unserer Quelle sehr nah.

Ich-Du-Wir
Der achtsame und behutsame U-Prozess führt rüttelt zwar jeden einzelnen und das ganze Team ordentlich durch. Und führt gleichzeitig von einem tiefen „Ich“ zu einem aufrichtigen „Du“ und daraus schließlich zu einem kraftvollen „wir“. Es ist wunderbar, das miterleben zu dürfen. Dafür liebe ich meinen Job! Klare Empfehlung meinerseits: Nutze das U für dich und dein Team!
Literaturtipps
Cornelia Andrioff: Praxisbuch für wirksame Veränderung – mit der Theorie U arbeiten, Springer Gabler, 2021
C. Otto Scharmer: Essentials der Theorie U – Grundprinzipien und Anwendungen. Carl-Auer Verlag, 2019